Ein Bild und seine Geschichte —
Bildnis Katharina ―  STALLWERCK 2017
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Bildnis Katharina
180 x 160 cm
Eitempera und Harzölfarbe auf Leinen
Januar 2017


Durch das Fenster im Malsaal beobachte ich das aufgeregte Durcheinander der Finken, Meisen und Buntspechte, die sich rund um das Vogelhaus um das Futter streiten. Ob sich hinter dieser Betriebsamkeit Muster erkennen ließen, die sich irgendwann wiederholen?
Ich kehre zurück zum großen Tisch und beginne mir die Ölfarben für mein heutiges Arbeitsziel zusammen zu stellen. Im Hintergrund höre ich ein mir vertrautes Musikthema beginnen: c-es-g-as-h - Pause.
Das Bildnis, an dem ich nun schon seit November mit längeren Unterbrechungen arbeite, nimmt immer mehr jene Gesichtszüge meiner Mutter an, die mir schon als Kind vertraut waren: Eine kaum bemerkbare Unsicherheit lag in ihren Augen, mit der sie die Umwelt ständig prüfte. Wie ein gehetztes Tier, das nur selten zur Ruhe kam.
Immer mehr Bilder ihrer Gesichtsszüge tauchen vor meinen Augen auf und vermischen sich gleichzeitig mit Bildern opulenter Gemächer: g-fis-f-e-es ...
Die Nachricht verbreitet sich rasch: Er, der große Bach, der Vater des Hofkomponisten Carl Phillip Emanuel Bach, sei nach Preußen gekommen. Johann Sebastian Bach besuchte an einem Abend im Mai 1747 die berühmte Residenz des preußischen Königs in Potsdam, die für sich programmatisch beansprucht, ein Ort 'ohne Sorgen' zu sein.
Wahrscheinlich war dies einer der seltenen sorglosen Momente König Friedrichs II, den sie schon zu Lebzeiten 'Der Große' nannten.
Ich vermische mit kräftigen Spachtelbewegungen ein in Leinöl angeriebenes Pigment mit Leichtspat und in Testbenzin gelöstes Bienenwachs. Langsam verwandelt sich die tropfende Farbsauce in gut vermalbare, buttrige Ölfarbe. Ich lege Erlenholzscheiter in den Ofen nach, und sehe, dass es draußen zu schneien beginnt. Stille legt sich über die Landschaft und ein anhebender Wind treibt in zufälligen Mustern wirbelnde Schneeflocken vor sich her. Der Wettkampf um die besten Kerne an den Futterstellen wird bis auf weiteres verschoben. Die Vögel suchen in den Sträuchern und Bäumen Schutz vor dem Wetter und verharren dort regungslos mit aufgeplustertem Gefieder.
Das musikalische Thema im Hintergund wiederholt sich und wechselt von der Tonika in die Dominante.
Das Hinzufügen des Wortpaares 'der Große' in den offiziellen Geschichtsbüchern bleibt wenigen Personen vorbehalten. Meistens haben diese "Großen" verheerende Kriege entfesselt, indem Sie ihre nicht zu Ende gedachten territorialen Visionen rücksichtslos umsetzten. Bachs Musik hat die Welt ohne bellizistische Großtaten erobert. Deshalb heißt es auch: Der "große Bach" — und nicht: Bach "der Große".

Meine Mutter Katharina wurde 1929 in Klagenfurt geboren und wuchs in einem Kirchturmzimmer auf.1929 kollabierte - kurz nach dem sie auf die Welt gekommen war - die Weltwirtschaft. Zuvor hatte ein aus der Zeit gefallener Monarch seinen Vielvölkerstaat stur in den unausweichlichen Untergang regiert. An das darauf folgende "Experiment Demokratie" als möglichen Gesellschaftsvertrag knüpften die Initiatoren vor allem die zitternde Hoffnung auf beständigen Frieden. Der Schrecken und die lebendige Erinnerung an das unvorstellbare Desaster des ersten Weltkrieges saßen noch tief. Dass sich die Hoffnung auf dauernden Frieden nicht erfüllen würde, begann sich mit der aufkommenden Bewegung des deutschen Nationalsozialismus und deren konspirativen Sympatisanten in der noch jungen und labilen Republik Österreich abzuzeichnen. Wohin diese fatale Entwicklung führte, ist bekannt. Meiner Mutter und ihren Geschwistern flogen gegen Ende des implodierenden Terrorregiemes der Nazis buchstäblich die Bomben um die Ohren. Bis zum April 1945 flogen alliierte Bomberverbände 47 Angriffe auf Klagenfurt. Während der ersten Angriffswellen versteckten sich meine Mutter und ihre Geschwister im Turmzimmer unter Decken, um nicht im Lärm der krepierenden Fliegerbomben vor lauter Angst verrückt zu werden. Der Weg über die schier endlosen Treppen im Turminneren hinunter zum sicheren Luftschutzbunker war für sie vom ersten Alarm bis zum Eintreffen der Bomber zeitlich gar nicht zu bewältigen.

Ich unterbreche die Arbeit und hole mir einen Bildband aus dem Bücherregal. Ich schlage nach und schaue mir noch einmal das Gemälde 'Guernica' an. Im April 1937, während des spanischen Bürgerkrieges, flog die deutsche Legion Condor den ersten verheerenden Bombenangriff der Militärgeschichte auf ein ziviles Ziel. Die Stadt Guernica im Baskenland. Dabei kamen mehrere hunderte Menschen ums Leben und die Stadt wurde weitgehend in Schutt und Asche gelegt. Ich betrachte die Darstellung des Terroraktes: Chaos, Angst, zerstückelte Menschen ...
April 37 — April 45. Nach acht Jahren kam der Terror wie ein Bumerang zu seinem Meister zurück und traf nicht nur diejenigen, die noch immer unbeirrt von ihrer "tausendjährigen" Utopie phantasierten.
"Eine seltsame Schleife", denke ich mir."Wie sich die Muster wiederholen ... Dennoch: Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen."

An jenem Abend des Jahres 1747 spielte Friedrich II, der Große, ein Thema auf seiner Flöte vor und forderte den großen Meister aus Sachsen auf, die königliche Sammlung seiner neu erworbenen Klaviere auszuprobieren und über dieses Thema eine Fuge ad hoc an einem seiner Fortepiani zu improvisieren. Bach entsprach dem königlichen Wunsch und spielte, wie ihm geheißen, eine Fuge zu drei Stimmen ad hoc über das "Thema regium" vor. Der König war begeistert und verlangte von Bach gleich darauf doch noch eine Fuge zu sechs Stimmen 'al improviso' vor zu spielen. Bach lehnte ab, gab dem König aber Bescheid, er werde sich dazu etwas überlegen und ihm dann zukommen lassen.

Das Unglück kam schleichend aus dem Hinterhalt. Anfangs fiel kaum jemanden etwas auf, doch von Jahr zu Jahr ließ der Gehörsinn meiner Mutter kontinuierlich nach. Langsam, fast so, als ob sich die fortschreitende Verschlechterung viel Zeit lassen konnte, da es ohnehin kein Entrinnen gab. Die Ärzte konnten sich die Ursache für dieses Phänomen "nicht erklären".
Als meine Mutter beinahe taub war, las sie von meinen Lippen ab. Diese Technik war ihr einzig verbliebenes Fenster in die Welt der Töne. Einmal fragte ich Sie, was sie sich denn zu ihrem nächsten Geburtstag wünsche, und sie antwortete mir tiefgründig: "Ein paar neue Ohren, damit ich die Welt wieder verstehen kann."

Zurück in Leipzig arbeitete Johann Sebastian Bach das königliche Thema in je einer Fuge für drei und sechs Stimmen aus und fügte eine Anzahl von Kanons sowie eine Triosonate für Flöte, Violine und Generalbass hinzu, in denen das "königliche Thema" ebenfalls erscheint. Am 7. Juli schloss er das Werk ab und widmete es unter dem Namen "Musicalisches Opfer" dem preußischen König.
In einem Begleitbrief an den König fügte Bach zum Schluß noch eine Bitte hinzu:

"Ich erkühne mich dieses unterthänigste Bitten hinzuzufügen: Ew. Majestät geruhen gegenwärtige wenige Arbeit mit einer gnedigen Aufnahme zu würdigen, und Deroselben allerhöchste Königliche Gnade noch fernerweit zu gönnen.
Ew. Majestät allerunterthänigst gehorsamsten Knechte dem Verfasser;

Leipzig, den 7. Julii 1747"


Es ist nicht bekannt, ob Johann Sebastian Bach mit seiner Bitte bei Friedrich dem Großen auf Gehör stieß. Die klangliche Erfahrung des musikalischen Opfers blieb dem Gehör meiner Mutter jedenfalls verschlossen, denn ihren Geburtstag mit neuen Ohren erlebte sie nicht mehr.

Ich trete ein paar Schritte zurück und betrachte das fertige Bildnis. Es ist mein "gemaltes Opfer" - einer großen Katharina geschuldet, die unvorstellbar an den Folgen jener horrenden Nächte zu leiden hatte, als die Fliegerbomben ihr weiteres Leben so entscheidend verändern sollten.
Draußen ist es finster geworden und der Wind bläst mit unverminderter Stärke durch das Schneegestöber. Ich lege die Pinsel auf die Palette zurück. Danach lege ich noch weitere Holzscheiter in den Ofen, unterbreche das musikalische Opfer und schalte das Licht aus. Morgen werde ich das Werkzeug mit Terpentinöl reinigen und einen passenden Platz für das Bild suchen.


Stallwerck, den 26. Januar 2017

Lei